Es gibt kein Entrinnen

Es hat wenig Sinn, vor der Wirklichkeit die Augen zu verschließen und die Wirklichkeit sieht nun einmal so aus, dass ich in diesem Jahr ein Alter erreichen werde, in dem meine Frau Mutter schon ein Jahr lang ihren Vorruhestand genossen hat. Vor-Ruhe-Stand! Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Ich glaube, „Vorruhestand“ ist eines der schönsten Wörter überhaupt. Es kommt gleich nach „Mittagsruhe“ oder sogar noch davor. Es impliziert eine Zeit vor dem Ruhestand, die mit der Zeit des Ruhestandes jedoch gleichzusetzen ist, was „Stand“ und „Ruhe“ betrifft. Man erreicht diesen Stand, weil man einerseits genug geleistet hat und andererseits die Leistungsfähigkeit nicht mehr nennenswert zu steigern ist, sondern eher abfällt.

Das Nachlassen der Leistungsfähigkeit ist nun eigentlich kein Problem, wenn man sein Leben eher prozeß- statt leistungsorientiert ausgerichtet hat. Es gibt aber doch Lebensbereiche, in denen sich der Leistungsabfall störend auswirkt. Zum Beispiel im Bereich des An- und Ausziehens. Ich merkte es zuerst bei den Schuhen: Seit einiger Zeit bereitet mir vor allem das Ausziehen meiner Schnürschuhe größere Schwierigkeiten. Ich ziehe an einem Ende des Senkels und produziere jedes Mal einen gordischen Knoten. Beim Anziehen reißt der Senkel mit schöner Regelmäßigkeit alle zwei Monate. Dann habe ich natürlich keinen Ersatz im Haus, es gibt auch keine zu kaufen oder ich kaufe sie zu kurz oder zu lang. Je älter ich werde, desto schlimmer wird das. Auf Schuhe mit Klettverschluss umzusteigen, käme aber einer Kapitulation gleich und würde früher oder später die Beantragung eines Pflegegrades und die Bestellung eines Betreuers nach sich ziehen.

Diesem Schicksal bin ich noch einmal entronnen, weil es inzwischen Schuhe gibt, die zwar mit Senkeln geschnürt werden können, die aber gleichzeitig über einen Reißverschluss verfügen. Damit handelt es sich um ein Produkt, das Senioren ermöglicht, ihre Würde wenigstens in diesem Punkt noch eine zeitlang aufrecht zu erhalten. Damit ist es aber auch vorbei, wenn der Reißverschluss kaputt geht. Was ungefähr genauso schnell passiert, wie Schnürsenkel reißen.